Vampire im Zitronenhain by Karen Russell

Vampire im Zitronenhain by Karen Russell

Autor:Karen Russell
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fantasie, Humor, Vision, Traum, Amerika, Liebe, Freundschaft, Familie, Wirtschaft, Krieg, Vampir, Swamplandia, Schlafanstalt für Traumgestörte
Herausgeber: Kein & Aber
veröffentlicht: 2013-08-21T16:00:00+00:00


Spinnen für

das Kaiserreich

Etliche von uns behaupten, Tochter eines Samurai zu sein, aber nachprüfen lässt sich das natürlich nicht mehr. In gewisser Weise ist die neue Namenlosigkeit auch eine Wohltat. Lang und dünn kommen wir hier an, Edelfrauen aus Yamaguchi, elegant wie Pinselschrift, aber auch klein und arm wie die krächzenden, vulgären Hida-Mädchen mit den blutigen Füßen, der Modellfabrik anvertraut von unseren weinenden Müttern, vermietet von unseren Not leidenden Onkeln, doch schon nach ein, zwei Tagen beginnt der Trank zu wirken, den uns der Anwerber eingeflößt hat. Und je ähnlicher sich unsere kaiko-Leiber werden, desto verzweifelter ersinnt jede Arbeiterin ihre Herkunft neu. Unsere Gefangenschaft hier im Nirgendswerk, die geballte Dunkelheit des Hallenbodens und der Polarpelz, der unsere Gesichter überzieht und uns alle zu Schwestern vereinheitlicht, sie bringen es mit sich, dass wir in unserem Vorleben jede beliebige Person gewesen sein können. Manche lügen ziemlich frech: Yuna sagt, ihr Großonkel besitzt ein Stück Segeltuch von den Schwarzen Schiffen. Dai behauptet, sie hat in der Schlacht von Shiroyama neben ihrem Vater, dem Samurai, gekniet. Nishi flunkert, sie habe sich auf der Fahrt vom Bahnhof Shimbashi nach Yokohama einmal im kaiserlichen Dienstwagen versteckt und gesehen, wie der Meiji-Kaiser rosa Kuchen aß. Ich hatte daheim in Gifu eine Mähne wie ein Eselschwanz und einen Mund wie eine kleine rote Bohne, den anderen erzähle ich hingegen, ich sei sehr schön gewesen.

»Woher kommst du?«, fragen sie mich.

»Vom Schloss in Gifu, ihr kennts vielleicht aus den berühmten Holzschnitten? Mein Urgroßvater war Krieger.«

»Oh! Aber Kitsune, hast du nicht erzählt, die Holzschnitte wären von deinem Vater? Dem berühmten ukiyo-e-Künstler Utagawa Kuniyoshi …«

»Ja. Das war gestern.«

Ich sage es ganz offen: Wir werden alle zu Fraupen. Eine Art Mischwesen, teils kaiko, Seidenraupe, teils Frau. Die Gesichter einiger älterer Arbeiterinnen sind schon ganz mit rauem weißem Pelz überzogen, mein Gesicht und meine Oberschenkel sind nach zwanzig Tagen noch glatt. Gerade bekomme ich die ersten weißen Haare am Bauch. Anfangs habe ich in der Seidenmanufaktur Tag und Nacht gezittert. Da ich nicht zur Hysterie neige, hielt ich diese Zitterei zunächst für stimmungsbedingt, ich dachte, eine Angst, die mir den Magen umdreht, hat mich im Griff. Dann wurde das Drehgefühl stärker. Es war der Faden: ein farbiger Faden, der sich für mich nicht sichtbar in meinem Bauch aufrollte. Seide. Meter um Meter dünner Farbstränge würde die Maschine bald aus mir herausziehen.

Heute bringt der Anwerber zwei Neuzugänge vorbei. Es sind Schwestern aus der Präfektur Yamagata, einem Arbeiterdorf namens Sakegawa, das keine von uns kennt. Töchter eines Lachsfischers. Tooka ist zwölf, Etsuyo neunzehn. Tooka hat einen Zopf bis zur Taille und Babyspeck; Etsuyo sieht mit ihrem langen Hals und den wachen braunen Augen wie ein Reh aus. Wir treten ans Licht, und Etsuyo unterdrückt einen Aufschrei. Tooka heult los – »Wer seid ihr denn? Was ist mit euch passiert? Wo sind wir hier?«

Dai geht zu ihnen hinüber, und bei allem Entsetzen sind die Schwestern aus Sakegawa zu müde und schockiert, um sich ihrer Umarmung zu entziehen. Sie bibbern, als hätten sie den Tee gerade erst getrunken. Etsuyo verdreht die Augen, als schwänden ihr die Sinne.



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